Denk kurz einen Moment darüber nach:
Wie oft siehst du deine Freunde oder diesen Kumpel, mit dem du dich früher jeden zweiten Freitag verabredet hast? Oder deine Cousine, die deine Vertraute war? Und wie oft siehst du deine Eltern oder deine Kinder, auch wenn sie im Ausland wohnen sollten? Bist du mit ihnen so oft zusammen, wie du eigentlich möchtest? Von meinem 24-jährigen Sohn habe ich kürzlich per WhatsApp ein Foto erhalten. Auf dem Foto war die Zahl 74 abgebildet. Darunter schrieb er „74 Tage und 8 Stunden. Das kann wirklich nicht sein! Wir müssen unbedingt etwas machen! Wir müssen uns öfter sehen!“. Dann rief er mich an und ich hatte erstmal einen Knoten im Hals….
Mein Sohn wohnt in Kopenhagen, ich in Köln. Dank moderner Kommunikationstechnologien und Internet sind wir immer in Verbindung, so dass wir per Mausklick oder Daumenmobilisierung jederzeit wissen, was wir so machen und wie es uns geht. So kommunizieren wir auch fast täglich. Dabei fehlt uns allerdings die Nähe und das Schöne des Beisammenseins. Das gleiche gilt auch für meine Familie oder beste Freunde, die in Spanien leben. Dort habe ich nämlich bis vor sechs Jahren gewohnt.
Kampagne lädt zur Reflexion ein
Nach dem Telefongespräch schickte mir mein Sohn den Link zu dem vierminütigen Video der spanischen Spirituosenmarke Ruavieja. Diese kraftvolle Weihnachtskampagne „Wir müssen uns öfter sehen“ lädt auf jeden Fall zur Reflexion ein. Bereits nach zwei Tagen hat das virale Video über sieben Millionen Zuschauer erreicht. Leo Burnett Madrid ist die Werbeagentur hinter der Idee: Die voraussichtliche Zeit, die du mit den Menschen verbringen wirst, die dir wichtig sind, kannst du nun berechnen. Laut diesem Rechner sehe ich voraussichtlich meinen Sohn noch 74 Tage und 8 Stunden in meinem Leben. Ernüchternd.
und 8 Stunden
Kann eine Zahl dein Leben verändern?
Die besten Ideen sind diejenigen, die in der Lage sind, das Verhalten und manchmal auch sogar die Lebenseinstellung zu ändern. Das ist die Aussage und auch das Ziel des Kreativdirektors Juan García-Escudero. Das Video zeigt die Reaktionen verschiedener realer Personen auf eine Zahl: nämlich die geschätzte Angabe der Zeit, die sie noch mit ihren Liebsten verbringen werden. Das erschreckende Ergebnis: Statistisch gesehen sind es nur noch Tage.
Alle Mitspieler waren sich einig: „Das kann nicht sein. Ich habe mit Jahren gerechnet. Wir müssen etwas ändern“. Schockiert brachen einige auch in Tränen aus, denn die Angaben waren wirklich knapp und weit entfernt von ihren Erwartungen – zwischen 6 und 91 Tagen.

Die Verteilung unserer Zeit entspricht nicht unseren wahren Prioritäten
Die meisten von uns sagen, dass Familie und Freunde das Wichtigste für sie sind, aber die Verteilung unserer Zeit entspricht dem ganz und gar nicht. „Das hat mit der Funktionsweise unseres Gehirns zu tun“, sagt Rafael Santandreu, ein Psychologe, der in diesem Projekt mitwirkt: „Wir sind programmiert, nicht darüber nachzudenken, wie viel Zeit wir noch zum Leben haben. Daher haben wir ständig das Gefühl, dass wir genug Möglichkeiten haben werden, das zu tun, was uns glücklich macht.“ So nutzen wir auch sehr oft triviale Ausreden wie „Ich habe keine Zeit“ oder „ich bin zu müde, um so weit zu fahren“, usw. In der Hetze des Alltages und den Leistungsansprüchen unserer Zeit verlieren wir uns selbst.
Womit wir unsere Zeit verbringen
Rein statistisch gesehen hat sich die Nutzung des Handys in den letzten sechs Jahren verdreifacht – wir nutzen mehr denn je audiovisuelle Inhalte. Angeblich werden wir in den nächsten 40 Jahren 520 Tage damit verbringen, Serien anzuschauen, weitere sechs Jahre mit Fernsehen, acht Jahre im Internet surfen und zehn Jahre Bildschirme anstarren. Beim Einkauf an der Kasse noch schnell die Mails checken – und möglichst auch gleich beantworten. Beim Gassigehen durch die Angebote von Amazon scrollen, obwohl man nichts davon wirklich braucht. Vor dem Schlafen gehen, mit Freunden am anderen Ende der Welt noch skypen und gleichzeitig die Facebook-Freunde mit Likes bestücken. Unser Vernetzungsgrad erlaubt uns immer weniger, zwischen wichtig und unwichtig zu differenzieren. Dieses andauernde Senden, Posten, Twittern, Chatten führt uns weg von unseren eigentlichen Bedürfnissen oder wahren, ehrlichen, realen Prioritäten, wie zum Beispiel mal ganz in Ruhe unser Lieblingsgetränk genießen, abschalten und mit einer Freundin oder einem Freund plaudern. Tja, mit der Vielzahl digitaler Kontakte nimmt vielleicht doch die Tiefe der Begegnung und Nähe von Beziehungen ab. Psychologen sprechen ja bereits vom Zeitalter des Selbstverlustes oder der Entfremdung.
Für alle, die diesen Algorithmus selbst ausprobieren und eventuell auch darüber reflektieren möchten, wie wertvoll Beziehungen wirklich sind: https://tenemosquevernosmas.ruavieja.es/en/ (Verfügbar auf Spanisch und Englisch).
Eine besinnliche Weihnachtszeit!
Autorin des Beitrags

Frauke Boeck
Kommunikationsexpertin
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