Ich traf dort besagten Walter Eichendorf, der für die DGUV, die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung arbeitet. Okay, ich gebe zu, ich wusste auch nicht, dass mehr als 70 Millionen Deutsche dort versichert sind. Eigentlich jeder, der in den Kindergarten, zur Schule oder zur Arbeit geht. Wann immer man einen Unfall im Zusammenhang mit der Arbeit hat, greift die DGUV – und je mehr ich über das Thema Unfälle auf der Arbeit recherchiere, umso erschütternder wird es.
Wusstet ihr, dass mehr als doppelt so viele Menschen in Deutschland sterben, weil sie die Treppe runterfallen als Motorradfahrer bei Unfällen? Mehr als 1.100 waren es 2012 (sagen die Zahlen des Statistischen Bundesamtes).
Wer die Treppe runterfällt müsste – um sich mit den Händen abzustützen – ein Gewicht von 200 Kilo stemmen können. Damit hätte er gute Chancen, bei der nächsten Olympiade in Rio die Goldmedaille im Gewichtheben zu erringen, da liegt für‘s Schwergewicht derzeit der Weltrekord im Reißen.
Jeder vierte Arbeitsunfall passiert, weil Kollegen von mir, von euch Stolpern oder Stürzen. Jede zweite Frühverrentung in Deutschland, die durch einen Unfall im Büro oder in der Fabrik, im Labor, am Band oder am Schreibtisch verursacht wird, ist auf Stürzen zurückzuführen.
Das sind unfassbare Zahlen und ich habe mich erstmal hingesetzt, als mir das Ausmaß klar geworden ist.
Die DGUV sagt im Übrigen auch, was es uns als Gesellschaft und jedes einzelne Unternehmen, jede kleine Firma oder auch an Stundenausfall an Schulen kostet, wenn man nicht die Hand ans Treppengeländer nimmt.
Mehr als eine Milliarde Euro gibt die Unfallversicherung für Prävention aus, mehr als 9,5 Milliarden Euro für Heilbehandlung, Reha und Entschädigung. Ein Drittel davon für Stolperer und Treppenstürze.
Leute, das ist doch Wahnsinn!
Eine typische Verletzung beim Treppenstürzen ist eine gebrochene Schulter: Das bedeutet drei Monate Arbeitsausfall – wenn es gut geht – und summiert sich zu Gesamtkosten von rund 48.000 Euro.
Es gibt auch gute Nachrichten:
Die Prävention bin ich selbst, ich habe es im wahrsten Sinne des Wortes selbst in der Hand, dass ich nicht die Treppe runterfalle, nicht stolpere. Dafür gibt es das Treppengeländer. Eine Hand gehört da ran, runter wie hoch.
Junge und fitte Menschen nutzen die Treppe als Fitnessgerät auf der Arbeit. Gute Idee, solange man die Hand am Geländer behält. (Mein Gott, jetzt klinge ich schon wie meine Oma, die mir bei 25 Grad im Sommer noch einen Schal umbinden wollte, damit ich mich nicht erkälte.)
Ich stelle mir gerade vor, was wir machen könnten, wenn sich alle Menschen beim Treppensteigen am Geländer festhalten. Es gäbe keine ernsthaften Unfälle mit den entsprechenden ernsthaften Folgen mehr.
Mit dem Geld, das die DGUV aktuell jährlich für die Folgen von Treppenstürzen ausgibt, könnten wir dann wahlweise:
- die komplette Syrienhilfe der Bundesregierung verdoppeln,
- 40.000 Lehrer einstellen und bezahlen,
- 800.000 Ganztagsplätze für Kinder unter 3 Jahren kostenlos anbieten,
- den TÜV für alle Pkw in Deutschland umsonst machen (und hätten noch was übrig).
Es spricht also nichts dagegen, es einfach mal zu machen:
Nehmt die Hand ans Geländer und rennt nicht die Treppe sportlich runter; lasst das Smartphone beim Gehen in der Tasche; sagt Bescheid, wenn ihr Teppichkanten, Wasserlachen oder Ölflecken seht und weist Kolleginnen und Kollegen auf die Risiken hin (auch auf die Gefahr hin, ausgelacht zu werden – oder wie eure Oma zu klingen).
Das Opel-Werk in Rüsselsheim hat es zuletzt geschafft, ein ganzes Jahr keinen einzigen Arbeitsunfall zu haben. Das sind bei weitem nicht die einzigen. Gute Unternehmen haben ein bis zwei Arbeitsunfälle je tausend Mitarbeiter pro Jahr.
Walter Eichendorf erzählte mir noch die Geschichte einer großen Schiffswerft in Singapur, die über Jahre die Zahl der Arbeitsunfälle nicht in den Griff bekam. Zu guter Letzt wurden alle 100 Meter Telefone installiert, die zwei Knöpfe hatten, einen roten und einen weißen. Wer immer etwas sah, was einen anderen Arbeiter gefährden könnte, sollte zum Telefon greifen und seine Beobachtung melden. Der rote Knopf ging zum Team Arbeitssicherheit der Werft, der weiße Knopf direkt ins Ministerium. Das war für die gedacht, die der eigenen Firma misstrauten. Innerhalb von zwei Jahren, so erzählte es mir Eichendorf, ist die Zahl der Arbeitsunfälle um 90 Prozent zurückgegangen.
Aber es geht bestimmt auch ohne solche Telefone.
Autor des Beitrags

Hartmut Müller-Gerbes
Konzernsprecher
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